Mercedes-Benz 710 SS Sport Tourer
Die einst große Popularität von Vorkriegsfahrzeugen scheint immer mehr zu bröckeln. Dies lässt sich an den sinkenden Preisen einiger Modelle ebenso ablesen wie an den immer kleiner werdenden Displays entsprechender Wagen auf den großen Oldtimermessen. Verwunderlich ist es letztlich nicht, da Autofans üblicherweise von den Fahrzeugen ihrer Kindheit am meisten in ihren Vorlieben beeinflusst werden. Entsprechend rücken inzwischen die Baujahre zwischen 1960 und 1990 vermehrt in den Fokus von Sammlern und Schraubern, während der Zeitraum vor dem Zweiten Weltkrieg für viele einfach zu weit weg erscheint. Und doch sollte man genau diese Autos nicht aus dem Auge verlieren. Immerhin waren die Jahre zwischen den Kriegen die absolute Hochzeit für externe Karosseriebaubetriebe. Zugleich fanden zwischen der Patentierung des Motorwagens im Jahr 1886 und dem Jahr 1940 große technologische Verbesserungen statt, die zwischendurch auch immer wieder zu – aus heutiger Sicht spannenden und interessanten – Irrwegen führten. Daher werfen wir hier im Onlinemagazin von Secret Classics auch weiterhin gern einen weiten Blick zurück. Im Rahmen der Retromobile Paris gelingt dies stets besonders gut, da diese französische Oldtimermesse als eine von wenigen Veranstaltungen nicht vergessen will, woher das Automobil einst kam. Entsprechend gibt es bei den Autoversteigerungen im Rahmen der Messe traditionell viele interessante Vorkriegsautos zu ersteigern. In diesem Jahr beispielsweise einen bildschönen Mercedes-Benz 710 SS Sports Tourer bei Artcurial.
Im Gegensatz zu heutigen Autos begann die Existenz dieses Fahrzeugs ein wenig anders. Am 28. April 1929 ging die Bestellung vom New Yorker Mercedes-Benz Händler ans Werk in Deutschland. Dort vergab man bald darauf die Fahrgestellnummer 36223 und fertigte das Chassis schließlich an. Obwohl der deutsche Hersteller einer von wenigen in der damaligen Zeit war, der ab Werk eigene Karosserien anbot, gab es weiterhin die Möglichkeit, unkarossierte Fahrgestelle zu bestellen und zum Karosseriebauer nach Wahl zu schicken. Nummer 36223 gelangte ohne Aufbau über den Atlantik und zierte 1930 den Mercedes-Stand auf der New York Auto Show. Hierfür brachte man eigens noch etwas zusätzlichen Chromzierrat am Rahmen an, der bis heute zu finden ist. Im Anschluss an die Automesse schickte man das Fahrgestell zurück nach Europa, wo es vermutlich zwischen 1931 und 1932 in Paris vom Karosseriebaubetrieb Fernandez & Darrin mit einem Sports Tourer Aufbau ausgerüstet wurde. Dies lässt sich zum einen aus einigen noch vorhandenen Dokumenten ablesen, zum anderen spricht die Linienführung besonders an den Kotflügeln klar für Darrin als Erschaffer, auch wenn es keine entsprechende Plakette am Fahrzeug gibt. Von ihm eingekleidete Duesenberg und Hispano-Suiza sehen sehr ähnlich aus. Howard ‚Dutch‘ Darrin arbeitete bis 1931 mit Thomas Hibbard zusammen und gründete dann gemeinsam mit dem Geschäftsmann Jino Fernandez eine eigene Firma. Fernandez besaß zu diesem Zeitpunkt bereits eine weitere Karosseriebaufirma in Boulogne sowie einen Showroom an der Pariser Champs-Élysée.
Zwischen den ausladenden Kotflügeln sitzt bei diesem Mercedes-Benz 710 SS eine wunderschöne Sports Tourer Karosserie mit vier Sitzplätzen, vier relativ kleinen Türen, ein voll versenkbares Stoffverdeck über die gesamte Länge des Passagierabteils sowie eine umklappbare Windschutzscheibe. Reichlich Chrom an der Frontpartie, beispielsweise am V-förmigen Kühlergrill, den beiden Hupenhörnern, den seitlich aus der Motorhaube austretenden Auspuffrohren, den großen Scheinwerfern und nicht zuletzt an den Speichenfelgen sorgt für schöne Kontraste zum schwarzen Lack und dem dunkelroten Leder im Innenraum. Über viele Jahrzehnte blieb dieser 710 nach der Komplettierung der Karosserie und einer erneuten Überquerung des Atlantiks in den USA, wobei er einige Male den Besitzer wechselte. Bis 1957 trug der Mercedes seine originale weiße Lackierung, bevor bei einer kleinen Restaurierung eine Umlackierung stattfand. 2009 kehrte der Wagen zurück nach Deutschland und erhielt eine Zertifizierung durch Mercedes-Benz Classic. 2016 erfolgte eine umfangreiche Revidierung des Sechszylinder-Reihenmotors. Dieser holt aus 7,1 Liter Hubraum im Normalbetrieb 140 PS, die durch das Zuschalten eines Roots-Gebläses kurzfristig auf 200 PS erhöht werden können. Damit erreicht der große Sports Tourer bei Bedarf bis zu 200 km/h Höchstgeschwindigkeit.
Auf der Grundbasis des 710 SS der Baureihe W06 baute Mercedes-Benz auch die bis heute gut bekannten Typen SSK und SSKL mit leicht verkürztem Fahrgestell auf. Aber auch der längere SS (Super Sport) schlug sich damals mehr als ordentlich im Motorsport und war zudem als Langstreckenfahrzeug bei Vielfahrern beliebt. Insgesamt entstanden nur 111 Exemplare des 710 SS, von denen eine geringe Anzahl bei externen Karosseriebauern ihren Aufbau erhielten. Einige überlebten die Kriegsjahre nicht. Zudem nutzten einige Firmen Fahrgestelle des S und SS, um den beliebteren und wertvolleren SSK und SSKL nachzubauen, wodurch der Bestand originaler Fahrzeuge weiter dezimiert wurde. Für dieses außergewöhnliche Exemplar erwartet Artcurial einen Zuschlagspreis im Bereich zwischen 6.000.000 und 8.000.000 €.
Bilder: Artcurial, Alex Penfold