Chevrolet Corvette mit Mittelmotor
Es deutete sich in den letzten paar Jahren an und wurde doch bis zur Weltpremiere von einigen Sportwagenfans für unmöglich gehalten: Chevrolet wagt bei der achten Generation der Corvette den radikalen Schritt vom Front- zum Mittelmotorkonzept. Selbst nachdem das neue Fahrzeug nun bereits seit rund einem Monat bekannt ist, hören die Diskussionen um diesen gewagten Wechsel noch nicht auf. Vermutlich verstummen sie erst, wenn die neue Corvette in ersten Vergleichstests gut abschneidet. Was viele Möchtegernexperten bei ihren Monologen außer acht lassen ist allerdings, dass Chevrolet nicht erst seit Beginn der C8-Entwicklung über eine Mittelmotor-Corvette nachdenkt. Tatsächlich liegt der Startpunkt für diese Überlegungen exakt 60 Jahre zurück. 1959 entstand der intern ‚R-Car‘ genannte Entwurf für einen Mittelmotor-Monoposto unter der Leitung des Corvette-Entwicklungschefs Zora Arkos-Duntov, einem Belgier mit russischer Abstammung. Obwohl sich General Motors als Mutterkonzern aus allen Arten des Motorsports zurückgezogen hatte, entstand also in der Corvette-Versuchsabteilung ein Rennfahrzeug, das seiner Zeit in vielen Dingen voraus war. Duntov selbst sprach von einem bewundernswerten Werkzeug und einem Design ohne Grenzen, wodurch der CERV-I (Chevrolet Experimental Research Vehicle) entstehen konnte. Er wollte den Chevrolet-Vorständen aufzeigen, was er sich technisch in einer Corvette vorstellte und wünschte.
Im Laufe der Jahre verbaute man sieben verschiedene Triebwerke und die unterschiedlichsten Getriebe im CERV-I. Allerdings ist besonders das ursprüngliche Small-Block-V8-Triebwerk mit Aluminiumblock sehr nahe an der nun in der Corvette C8 Stingray präsentierten Antriebstechnik. Duntov fuhr mit CERV-I 1960 sechsmal den damals noch nicht asphaltierten Pikes Peak rauf und runter, wobei er sehr gute Zeiten erzielte. Vor der Öffentlichkeit hielt man den Wagen bis zu einer Ausstellung im Rahmen des Grand Prix der USA in Riverside 1960 geheim. Auf den Monoposto folgte 1964 mit dem CERV-II ein Prototyp im Stil von Le-Mans-Rennwagen. Tatsächlich gab es ursprünglich Bestrebungen mit bis zu sechs Exemplaren an diesem legendären Rennen teilzunehmen. Allerdings entbrannte in den USA gerade der Skandal um den Chevrolet Corvair, der aufgrund seines Heckmotors und die daraus resultierende Fahrbarkeit in die Kritik geraten war. Daher zog der Hersteller dem Projekt nach nur einem gebauten Auto den Stöpsel. Interessanterweise plante Duntov den CERV-II mit je einer Wandlerautomatik an Vorder- und Hinterachse, wodurch es der erste Mittelmotorwagen mit Allradantrieb war. Sowohl der CERV-I als auch der CERV-II befinden sich heute in Privatbesitz.
Nach den gesammelten Erfahrungen mit den beiden Konzeptstudien plante Duntov die dritte Corvette-Generation als Mittelmotorsportwagen, wobei er keineswegs ein reines Rennstreckenfahrzeug im Kopf hatte. Stattdessen sollte die Corvette C3 bis zu zwei Passagieren und ihrem Gepäck als sportliches Reisefahrzeug dienen. Gemeinsam mit Bill Mitchell stellte er den Prototyp XP-880 Astro 2 auf die Räder, die jedoch beim Vorstand von General Motors kein Gefallen fand. Dort gab man der zeitgleich entwickelten Variante mit Frontmotor den Vorzug, zeigte den Astro 2 aber trotzdem auf der New York Auto Show 1968. Nach dieser herben Enttäuschung erarbeitete Duntov mit seinem Team den neuen XP-882, von dem noch im gleichen Jahr zwei Exemplare fahrbereit in der Entwicklungsabteilung standen und deutlich bessere Fahrleistungen zeigten als alle Corvette-Modelle bis dahin. Allerdings untersagte der damalige General Manager von Chevrolet, John Z. DeLorean, jegliche weiteren Arbeiten an diesem Konzept. Duntov fand jedoch einen kreativen Weg rund um seinen Chef und stellte einen neu lackierten und bestmöglich aufgebauten XP-882 1970 auf der New York Auto Show als möglichen Konkurrenten zum von Ford in den USA angebotenen De Tomaso Pantera aus. Das dortige Messepublikum klatschte nicht nur Beifall sondern schrieb soviele Briefe an den Markenvorstand, dass DeLorean schließlich Gelder zur Weiterentwicklung freigeben musste. Durch die Ölkrise 1973 stoppte man schließlich endgültig weitere Arbeiten am Mittelmotorauto und baute stattdessen die Corvette C3 deutlich länger als ursprünglich geplant.
Zwei Jahre nach der Premiere des XP-882 rekonstruierte man eines der beiden Exemplare zum XP-895 mit eher europäisch angehauchtem Design und Stahlkarosserie. Diese machte den Wagen jedoch deutlich schwerer und damit langsamer. Gemeinsam mit Reynolds Aluminium, einem Zuliefererbetrieb von GM, fertigte man daher einen zweiten, identischen Prototyp an, der jedoch durch seine Bauweise über 200 Kilogramm leichter geriet. 1973 debütierte auf der IAA in Frankfurt ein eigentlich unterhalb der Corvette angedachter Mittelmotorsportwagen, der schließlich als ‚Two-Rotor Corvette‘ doch in die Ahnenreihe der größeren Baureihe aufrückte. Wie der Name bereits verrät handelt es sich um ein Versuchsfahrzeug aus der Zeit als Chevrolet mit Wankeltriebwerken experimentierte. In diesem Fall nutzte man mit dem gekürzten Chassis eines Porsche 914/6 außergewöhnlicherweise konzernfremde Bauteile. Ursprünglich trug der von Pininfarina eingekleidete Wagen klassisches Silber, später lackierte man ihn rot. Heute steht er, vermutlich mit einem Mazda-Wankelmotor versehen, in einer privaten Autosammlung.
Aus dem XP-895 mit Stahlkarosserie entstand 1973 die ‚Four-Rotor Corvette‘ mit einem Vierrotor-Wankelmotor, zusammengesetzt aus zwei Chevrolet-Vega-Triebwerken. Gemeinsam leisteten sie rund 420 PS. Die Karosserie wurde verlängert und erhielt Flügeltüren im Stil des Mercedes-Benz 300 SL. Da man im gleichen Zeitraum die Probleme mit den Kreiskolbentriebwerken bei GM nicht in den Griff bekam, wanderte der Prototyp ungezeigt ins Depot. Von dort holte man ihn jedoch drei Jahre später hervor, tauschte das Triebwerk mit einem 6,6 Liter großen V8 aus und benannte das Fahrzeug neu als ‚Aerovette‘. Diesmal konnte man sogar den GM-Vorstand überzeugen und das Auto wurde für die Serienfertigung ab Modelljahr 1980 freigegeben. Allerdings blieben weder Designer Bob Mitchell, noch Zora Arkos-Duntov lange genug bei Chevrolet, um diese Markteinführung auch wirklich durchsetzen zu können. So entschied der damalige Chevrolet-Chef David R. McLellan, dass ein Front-Mittelmotorkonzept für die kommende Corvette C4 kostengünstiger in der Produktion wäre.
Obwohl also erneut eine Corvette nach bekanntem Muster produziert wurde, ging man intern weiterhin dem Phänomen auf die Spur, warum das Mittelmotorkonzept viel bessere Fahrleistungen bot. 1986 debütierte auf der North American International Auto Show (NAIAS) in Detroit das Konzeptfahrzeug Corvette Indy mit Vierradlenkung, aktivem Fahrwerk, Traktionskontrolle, ABS, Bildschirmen anstelle von analogen Instrumenten und einer frühen Form eines GPS-Navigationssystems. Selbst der Antrieb war neu und ungewöhnlich, da man den neu entwickelten V8-Biturbomotor mit nur 2,65 Litern Hubraum und rund 600 PS aus der IndyCar-Rennserie nutzte. Für die stromlinienförmige Karosserie aus Carbon und Fiberglas zeichnete Jerry Palmer verantwortlich. Als Weiterentwicklung der Corvette Indy stand vier Jahre später, wieder in Detroit, der CERV-III mit einem 5,7 Liter großen V8-Triebwerk, das dank diverser Veränderungen und doppelter Turboaufladung mehr als ordentliche 650 PS und 888 Newtonmeter Drehmoment auf die Kurbelwelle stemmte. Den Aufbau dieses Prototyps vergab man an Lotus in Großbritannien, damals für kurze Zeit eine Tochterfirma von GM. Trotz ordentlicher Fahrleistungen blieb auch diesem Fahrzeug schließlich nur noch der Weg ins Museum. Erst jetzt, im Modelljahr 2020, traut sich Chevrolet schließlich wirklich diesen gewaltigen Schritt zu und bringt die Corvette C8 Stingray auf den Markt.
Bilder: Chevrolet